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Narrativ

Was ist ein Narrativ?

Über Meistererzählungen

Eine Narration (lat. „narratio“: Erzählung) ist eine Darstellung oder auch eine Präsentation von etwas. Das Wort kennen vielleicht manche aus der Literaturwissenschaft, oder noch aus dem Deutschunterricht. Wir können es erstmal als ein schickeres Synonym für Geschichte verstehen. Darin wird eine Handlung widergegeben, die so passiert sein kann, wie in einer Dokumentation, oder die frei erfunden ist, wie in einem Märchen. Diese Narration wird von jemandem erzählt oder aufgeschrieben. Hinter einer Geschichte steckt ein Prozess der Herstellung, bei dem mit allerlei Regeln der Kunst, wie etwa stilistischen Mitteln oder beliebten Figuren und Motiven, eine möglichst ansprechende Darstellung hervorgebracht wird. So ist eine Narration nicht das bloße Aufzählen von Zutaten, sondern sie ist vielmehr eine kunstvolle Küche, in der mit liebevoller Detailarbeit der Erzähler seine Farben, Emotionen und Handlung zu einer Gesamtkomposition verarbeitet und sie geschickt auf dem Tisch der Zuhörer drapiert. Er stellt nicht bloß Karotten, Zwiebeln, Tomaten und eine Kuh ins Esszimmer. Er verarbeitet sie zu einem fein gewürztem Ragout, dass er mit Silberbesteck in glänzendem Porzellan serviert. Der geschickte Erzähler versucht den Geschmack seines Publikums zu treffen.

Vielleicht werden sich jetzt manche denken, dass sie das wohl glauben wollen, wenn es um die angesprochenen Märchen geht. „Aber die Dokumentationen! Das ist doch keine Erfindung, sondern Tatsachen!“, werden sie eventuell entgegnen und die Stirn in kritische Falten legen. Hier hilft es, sich der englischen Sprache zu bedienen, die das Wort Geschichte zweifach übersetzt: einmal als story und einmal als history. Die Story ist die Narration, die Geschichte, die von einem Geschichtenerzähler zubereitet wird. Es wird auch von dem Story-Telling gesprochen, was nochmal betont: Hier ist ein Steuerer am Werk, der die Geschicke des jungen Frodo auf seinem Weg zum Schicksalsberg leitet und führt.

Was die History betrifft, die Dokumentation der Vergangenheit und der Gegenwart, so müssen wir etwas genauer hinsehen. Auch diese Dokumentationen stammen aus der Feder eines Menschen, sei es nun eine Historikerin, eine Chronistin, eine Sozial- oder Kulturwissenschaftlerin, eine Journalistin oder wer sonst von sich behauptet, lediglich aufzuschreiben, was sich zugetragen habe. Und auch dieses Bataillon an hochkarätigen Wissenschaftlerinnen und Fachkräften wird dem zugewandten Publikum nicht die lebende Kuh ins Esszimmer führen. Auch sie machen etwas daraus, das sich sehen lassen kann.

Um dies ein bisschen auszuführen soll hier der Ethnologe Claude Levi-Strauss vorgestellt werden, der sich die History des Kolonialismus des 19. Jhd. in Mittel- und Lateinamerika, also die Überlieferungen aus dieser Zeit, genauer angesehen hat. Er sammelte hierzu verschiedene Berichte und stellte die Erzählung der Kolonialherren (der Meister) den Erzählungen der Sklaven gegenüber. Sein Ergebnis war, dass die verschriftlichte und verbreitete History über den Kolonialismus lediglich die Perspektive der Meister und nicht die Perspektive der Sklaven beinhaltete. So erfand Levi-Strauss den Begriff der Meister-Erzählung (master narratives), womit er darauf hinweisen wollte, dass dies nur die halbe Wahrheit sei. Mit dem Wort Narrativ, wie Levi-Strauss es benutzte, war jetzt nicht mehr nur eine Geschichte (eine Narration) gemeint, sondern eine bestimmte etablierte Erzählung, die sinnstiftend ist, Werte und Emotionen vermittelt und erklärt, wie die Weltordnung sich zusammensetzt.[1]

Damit sind nun zwei elementare Eigenschaften eines Narrativs beschrieben: Zum einen handelt es sich dabei immer um die Erzählung aus einer bestimmten Perspektive. Zum anderen entsteht und verbreitet sich ein Narrativ durch Machtstrukturen. Mit anderen Worten: Es handelt sich um die etablierte Geschichte, erfunden und/oder durchgesetzt von Machtinhabern, die aber für die gesamte Gemeinschaft legitim und daher wirkungsvoll wird.

Zurück zur History: Nach den Erkenntnissen von Levi-Strauss und den daran anschließenden Debatten hat sich das kritische Reflektieren über History verändert und auch die Geschichtsschreibung, wie sie heute praktiziert wird, ist sich der Gefahr der einseitigen Meister-Erzählung bewusst. Neben dem Aufzählen von Daten wird die größere Bedeutung von Ereignissen heute weitgehend multiperspektiv erzählt. Es haben sich hieraus beispielsweise die Felder der Subaltern Studies und des Postkolonialismus entwickelt. Für unser Thema Diversity ist die akademische Praxis von History aber zweitrangig. Zentraler ist hier die Erkenntnis über Narrative, die Levi-Strauss auch als Mythen bezeichnet hat.

Narrative haben wir auch heute und sie sind ebenso dynamisch wie durchdringend in unseren Gesellschaften. Sie verhandelnd Lebensziele, Werte, Orientierung und Identität. Sie erklären was ist, warum es ist und vor allem, warum das rechtens ist, was ist. In den Narrativen finden wir die Erzählungen der Kulturen, die Erklärungen und Begründungen, wie die Dinge laufen sollen und warum. Narrative sind motivierend und richtungsweisend, sie erklären, welchen Nutzen eine Handlung hat, welcher Ausgang wünschenswert wäre und welcher Wert darin mitschwingt. Wir finden sie nicht nur in großen Kulturkreisen, sondern auch in kleineren Einheiten, wie in einem Verein, einem Unternehmen, einer Abteilung oder einer Familie. Im Laufe des Lebens entwickeln viele Menschen auch Narrative über sich selbst. „Ich bin diejenige, die immer XY tut.“ Oder „Wenn ich nur XY tue, dann wird mir auch Z passieren.“ Oder „Weil ich XY bin, wird immer auch Z sein.“

Was nun passiert und warum wir uns hier mit dem Narrativ beschäftigen, ist folgendes: Ausgehend von dem Narrativ, der verbindlichen und populären Mythe, entscheiden und bewerten Menschen ihr Handeln. Es wird zum Schnittmuster einer Lebensführung. Im Umkehrschluss wird tatsächlich ausgeführtes Handeln von Menschen mit dem Schnittmuster auf seine Korrektheit überprüft. Jetzt leben wir in einer diversen Gesellschaft, in der unterschiedliche Mythen aufeinander treffen und einmal erzählte Mythen sich weiterentwickeln. Was also in der einen Logik und Zeit richtig und korrekt ist, wird möglicherweise in der anderen Logik und Zeit auf Missmut und Widerstand treffen. Wer hat nun Recht? Welche Mythe ist wahrer? Wie verläuft die Regulierung der Narrative? Welche Meister-Erzählung botet die andere aus, die sich als Sklaven-Erzählung unterordnen muss?

Die Antwort auf diese Frage ist eng verknüpft mit der Gewohnheit und dem Geschmack. Diejenigen, die sich durchsetzen sind nicht nur die aggressivsten, die am lautesten Schreien können oder am schnellsten das Wort ergreifen. Die Durchsetzungsstarken sind diejenigen, die besonders gut kochen können, die also ihr Story-Telling beherrschen. Das Publikum wird nicht die Kuh essen, die am schnellsten und am lautesten in den Speisesaal getrieben wird. Wer so seinem Publikum begegnet, wird es eher noch verschrecken, denken wir nur an die Reaktion der Leserschaft auf Darwins „Die Entstehung der Arten“, eine Veröffentlichung, die allergrößten Anstoß fand in der christlich sozialisierten Gesellschaft des 19. Jhd. Der Grund dafür war nicht etwa, dass seine Kuh eine Farce gewesen wäre, sie wurde nur viel zu schnell in den Raum gejagt, und war schlichtweg zu verschieden von dem, was man zuvor gegessen hatte. Es brauchte eine Menge Zwischengänge, bis sich die Menge auf diesen Vorschlag einlassen konnte.

Nein, das Publikum wird das Ragout essen, dass am feinsten duftet, in der bezauberndsten Schüssel aufgetragen wird und mit den herzlichen Empfehlungen des Küchenchefs, von dem bestenfalls bereits im höchsten Tönen gesprochen wurde, vor ihnen im Kerzenschein und Geigenhimmel kredenzt wird. Menschen lieben gute Geschichten mit hübschen Figuren, wie sie gutes Essen in hübschen Service lieben. Am Ende werden sie wohl stets das Gericht wählen, dass ihnen am besten schmeckt. Und das ist immer auch eine Frage, was sie gewohnt sind zu essen, denn davon darf es sich nicht zu sehr unterscheiden. Zusammenfassend können wir sagen, dass durchsetzungsstarke Narrative, wie die beliebtesten Geschichten, stets auf das Aufbauen, was bereits bekannt und akzeptiert ist mit einer Nuance Neuem, und dem Publikum etwas schmeichelhaftes vorsetzen, dass ihnen schmeckt.

Konrad H. Jarausch, Martin Sabrow (2002): „Meistererzählung“ – Zur Karriere eines Begriffs. In: Dies. (Hrsg.): „Die historische Meistererzählung. Deutungslinien der deutschen Nationalgeschichte nach 1945.“ Göttingen: Vanderhoeck & Ruprecht, S. 9–31.

Postkolonialismus

Was ist Postkolonialismus?

Mit dem Begriff Kolonialismus können sehr viele etwas anfangen. Seit dem 15. und bis zum 20. Jahrhundert haben einige Staaten das Land und die ansässige Bevölkerung in einem anderen Territorium in Besitz genommen und sich verfügbar gemacht. Sie haben zum Beispiel Rohstoffe, Menschen, Wissen und Land erobert und für sich beansprucht. Dies wurde begleitet von der Auffassung der Kolonialisten, selbst „zivilisiert“ und daher überlegen und dem entsprechen wertvoller zu sein als die „Naturvölker“ (in Abgrenzung zur Zivilisation), die sie „erobert“ und versklavt haben. Die Ansässigen hingegen wurden oftmals nicht als Menschen mit gleichem Recht, Verstand und Wert betrachtet, sondern mehr als exotische Wesen, die wie Tiere domestiziert werden konnten. Im Laufe der Zeit haben sich viele Kolonialisten zum Ziel gesetzt, ihre Werte, Ästhetik, Bürokratie, Weltverständnis, Religion und so weiter der lokalen Gesellschaft anzueignen.

Im 20. Jahrhundert kam es schließlich für einen Großteil der betroffenen Gebiete zur Dekolonialisierung, zur weitgehenden politischen Unabhängigkeit der Kolonialstaaten. Postkolonialismus wird ab diesem Zeitpunkt von einigen im Fachdiskurs für die Zeit danach verwendet. Hier nun gibt es verschiedene Perspektiven auf Geschichte. Kritiker des Begriffs mahnen an, dass er einen „endgültigen Abschluss einer historischen Epoche“ suggeriere, „so als wäre der Kolonialismus und seine Konsequenzen definitiv vorbei“. Dem entgegen stehet die Beobachtung, dass erst jetzt Konsequenzen und soziale Prozesse in Gang gesetzt wurden (und bis heute werden) wie etwa die Suche nach alternativen kulturellen Wurzeln der Kolonialisierten: die Suche und Konstruktion einer Geschichte, Entstehungsmythen, Traditionen, Werten, Religionen – kurzum Identitäten, die ohne Kontakt oder Beeinflussung durch die Kolonialisten funktioniert. Dies ist ein eindrucksvolles Beispiel, wie politisch die Herstellung von Identität oder Sinn ist.

Im Falle des Postkolonialismus kann die Herstellung einer alternativen Identität als ein Befreiungsschlag gegen die Hegemonie, die Vorherrschaft „fremder Herrscher“ verstanden werden. Wenn ich meine Geschichte auch ohne meinen Unterdrücker erzählen kann, bin ich in meiner Identität, in dem was, wer oder wie ich bin, ein Stückchen unabhängiger, freier.

Stuart Hall (2013): Wann gab es das `Postkoloniale´?: Denken an der Grenze, in: Conrad et al (Hrgs.): „Jenseits des Eurozentrismus“, Frankfurt, campus.