Schlagwortarchiv für: Startseite

Worüber reden Feminist*innen heute?

Nach dem wir mit KuGe Kultur und Gestalt im Januar beim Feministischen Barcamp Mannheim waren, möchte ich mit etwas zeitlichem Abstand nochmal die wichtigsten Ergebnisse aus unserer Session teilen. Wir haben unser Angebot in der ersten Session-Runde gegen 12 Uhr durchgeführt. Die Frage, mit der wir gestartet sind, war: “Feminismus 3.0: Was wollen Feminist*innen heute?” Wir haben uns sehr darüber gefreut, dass unser Workshop ziemlich voll war, sodass wir so viele Meinungen, Impulse und Standpunkte zusammentragen konnten. Nach einer kurzen Zusammenfassung, was im Feminismus bisher zentrale Forderungen waren und einem kurzen Überblick der Rechtsgeschichte der Gleichstellung aller Geschlechter (ohne Gewähr auf Vollständigkeit) sind die Teilnehmer*innen zu Wort gekommen. Wir haben in gemeinsam zusammengetragen, was den Anwesenden zum Thema Feminismus wichtig ist.

Hier ist eine Liste der Punkte, die genannt wurden:

  • Medien, nicht Gesetze bestimmen unser Denken (Schönheitsideale, Femnistische Pornographie)
  • Feminismus: Freiheit, sich von gesellschaftlichen Rollenbildern frei zu machen (gilt für Männer, Frauen, Divers)
  • Schluss mit Geschlechterstereotypen
  • Gleichberechtigung: sozial, in der politische Teilhabe, in der Öffentlichkeit, sexuell
  • Empowerment: Sich von Rollenerwartungen nicht einschränken lassen
  • Selbstbestimmung
  • Frauen-Vorbilder positiv nutzen: Verbinden statt Abgrenzen
  • Frauen sollen kein Stück vom Kuchen, sondern einen eigenen Kuchen bekommen
  • Sexuelle Gewalt gegenüber Frauen bekämpfen
  • Genderfreie Erziehung
  • Wertschätzung von Care-Arbeit
  • Queer-Feminismus: Gender und dessen soziale Bedingung reflektieren
  • Gender und Klimawandel
  • Gleicher Lohn für gleiche Arbeit
  • Stereotypisierung von Studiengängen
  • Tatsächliche Gleichstellung, gleiche Rechte ohne Hindernisse und Einschränkungen
  • Existenz-sichernde Arbeit für Frauen
  • Sensibilisierung des Umfeldes für das Thema Gender
  • Gleiche Möglichkeiten für alle Menschen
  • Spagat zwischen gleiche Rechte und Chancen und intensiv berufstätig und Mutter sein dürfen
  • Parität in allen Gremien, die Entscheidungen treffen
  • Feminismus braucht Kapitalismus-Kritik
  • Leistungsgerechte Anerkennung bzw. Bezahlung
  • Vielfalt aller Geschlechter
  • Ich kann mich nach meinen Fähigkeiten entwickeln
  • Selbstbestimmung: Nicht geschlechter-konform sein müssen
  • Gender ist ein soziales Konstrukt
  • Förderung von Familien anstatt Ehemodellen
Was mir aufgefallen ist, war die Bandbreite, wie die Beitragenden Gender oder Frau* sein für sich selbst definiert und beansprucht haben. Wie es die Bundeszentrale für politische Bildung gut auf den Punkt bringt, ließ sich auch in unserer Runde feststellen, dass wir Differenz- und Gleichheits-Feminist*innen dabei hatten. Während manche die Differenz zwischen Mann und Frau betonten und eine Aufwertung und Gleichstellung von weiblichen Personen einforderten (Kein Stück vom Kuchen, sondern ein eigener Kuchen), vertraten andere die Position, dass eine binäre Ordnung von Geschlechtern (Mann/Frau) aufgelöst werden und alle Personen gleichermaßen als Menschen betrachtet werden sollten. Was die Forderungen des Feminismus betrifft, so lassen sie sich in meinen Augen doch immer wieder mit ein paar zentralen Punkte zusammen fassen, die in ihrer konkreten Realisierung ein weites Feld bearbeiten müssen:

Freiheit, Gleichberechtigung und Respekt.

Für alle.

Bildquelle: http://traitspourtraits.tumblr.com/post/132756165064

Gender: Perspektiven, Spannungsfeld und Freiheit

Gender eröffnet Perspektiven.

Die Geschlechtsforschung fordert zu mehr Bewusstheit auf. Sie tut nicht nur das, die Auseinandersetzung mit „Gender“ ermöglicht und fördert auch eine Bewusstheitserweiterung auf vielen gesellschaftlichen Ebenen. Gender ist

für das Individuum genauso, wie für spezifische Gruppenkontexte auf persönlicher, beruflicher, psychologischer, pädagogischer und politischer Ebene relevant.

 

Gender ist allumfassend.

Ein Aspekt des psychologisch reflektierten Blicks zur Geschlechtsforschung ist, dass die Gender Thematik kollektiv verleugnet, abgespalten, ignoriert oder aus dem Bewusstsein weggeschnitten worden ist und teilweise wird dieser Umgang mit dem Fremden noch heute so praktiziert.

ZB.: wenn an Neugeborenen, die ohne eindeutige weiblichen oder männlichen Geschlechtszugehörig geboren sind, entsprechende chirurgische oder medikamentöse Eingriffe vorgenommen werden, um sie einer ausschließlich nur weiblichen oder nur männlichen Geschlechtlichkeit zuzuweisen.

 

Diversity ist Normalität.

Vielfalt ist natürlich. Für Gender gilt dieser Grundsatz auch.

Biologische Vielfalt gelten lassen

Aus archaische (aus ältester Herkunft) kulturellen Gesellschaftsformen ist der natürliche Umgang mit vielfältigen Phänomenen von sichtbaren, biologischen Geschlechtsmerkmalen benannt. Hier wurde das Anderssein verehrt und gewertschätzt: in der Antike kamen dem Zwitter besondere Privilegien zu, in Indien wird der Zwitter als Gottheit verehrt.

 

Gesellschaftliche Vielfalt beobachten

Für Indianer ist es natürlich von fünf verschiedenen Geschlechtern auszugehen. Sie sagen es gibt: den Mann, die Frau, den weiblichen Mann, die männliche Frau, den Zwitter. Auf Google gibt es aktuell insgesamt 60 Eintragungen zur geschlechtlichen Identität. Die Gesellschaft ist reif für eine Gender Bewusstseinsrevolution. Unser Zeitgeist ist reif für neue Sichtweisen.

Heute steht Bildung und Wissen deutlicher im gesellschaftlichen Bewusstseinsraum. Auch die unterschiedlichen Wirklichkeiten sind verfügbarer und auf Knopfdruck sofort zugänglich und lassen sich nicht einfach wegwischen respektive ignorieren.

Wird einerseits im vorherrschenden Zeitgeist Egomanie beklagt, so ist andererseits gerade dieses, sich selbst genauer und bewusster wahrnehmen, ein Auftakt für die jetzt bereichernde Offenheit im Umgang mit Gender.

Es braucht Interesse und Neugierde aller Beteiligten, um auszuhalten, dass es nicht ausschließliche Polaritäten gibt, sondern die natürliche Vielfalt.

Mit Gender ist eine psychologische Bewusstheitsevolution eingeleitet worden, die Wahrnehmungen und bewusste Ansprüche an geschlechtsspezifischen Aspekten neu sortiert respektive zusammenfügt. – Unsere Gesellschaft ist reif für neue Sichtweisen.

 

Politische Vielfalt einfordern

Sprachlich hat sich der Gesetzgeber auf: Mann, Frau und Person festgelegt.2017 wurde das gesellschaftliche Recht erstritten, sich selbst in der Geschlechtsangabe als divers zu bekennen. Seit 2019 ist „divers“ offiziell und somit gibt es jetzt die Geschlechtsoptionen: männlich (m), weiblich (w) und divers(d).

Wir können Menschen in Würde begegnen? Wir können uns untereinander mit Identitätsangeboten inspirieren? Diese Fragen bearbeiten wir in unseren Gender Seminaren.

 

Narrativ

Was ist ein Narrativ?

Über Meistererzählungen

Eine Narration (lat. „narratio“: Erzählung) ist eine Darstellung oder auch eine Präsentation von etwas. Das Wort kennen vielleicht manche aus der Literaturwissenschaft, oder noch aus dem Deutschunterricht. Wir können es erstmal als ein schickeres Synonym für Geschichte verstehen. Darin wird eine Handlung widergegeben, die so passiert sein kann, wie in einer Dokumentation, oder die frei erfunden ist, wie in einem Märchen. Diese Narration wird von jemandem erzählt oder aufgeschrieben. Hinter einer Geschichte steckt ein Prozess der Herstellung, bei dem mit allerlei Regeln der Kunst, wie etwa stilistischen Mitteln oder beliebten Figuren und Motiven, eine möglichst ansprechende Darstellung hervorgebracht wird. So ist eine Narration nicht das bloße Aufzählen von Zutaten, sondern sie ist vielmehr eine kunstvolle Küche, in der mit liebevoller Detailarbeit der Erzähler seine Farben, Emotionen und Handlung zu einer Gesamtkomposition verarbeitet und sie geschickt auf dem Tisch der Zuhörer drapiert. Er stellt nicht bloß Karotten, Zwiebeln, Tomaten und eine Kuh ins Esszimmer. Er verarbeitet sie zu einem fein gewürztem Ragout, dass er mit Silberbesteck in glänzendem Porzellan serviert. Der geschickte Erzähler versucht den Geschmack seines Publikums zu treffen.

Vielleicht werden sich jetzt manche denken, dass sie das wohl glauben wollen, wenn es um die angesprochenen Märchen geht. „Aber die Dokumentationen! Das ist doch keine Erfindung, sondern Tatsachen!“, werden sie eventuell entgegnen und die Stirn in kritische Falten legen. Hier hilft es, sich der englischen Sprache zu bedienen, die das Wort Geschichte zweifach übersetzt: einmal als story und einmal als history. Die Story ist die Narration, die Geschichte, die von einem Geschichtenerzähler zubereitet wird. Es wird auch von dem Story-Telling gesprochen, was nochmal betont: Hier ist ein Steuerer am Werk, der die Geschicke des jungen Frodo auf seinem Weg zum Schicksalsberg leitet und führt.

Was die History betrifft, die Dokumentation der Vergangenheit und der Gegenwart, so müssen wir etwas genauer hinsehen. Auch diese Dokumentationen stammen aus der Feder eines Menschen, sei es nun eine Historikerin, eine Chronistin, eine Sozial- oder Kulturwissenschaftlerin, eine Journalistin oder wer sonst von sich behauptet, lediglich aufzuschreiben, was sich zugetragen habe. Und auch dieses Bataillon an hochkarätigen Wissenschaftlerinnen und Fachkräften wird dem zugewandten Publikum nicht die lebende Kuh ins Esszimmer führen. Auch sie machen etwas daraus, das sich sehen lassen kann.

Um dies ein bisschen auszuführen soll hier der Ethnologe Claude Levi-Strauss vorgestellt werden, der sich die History des Kolonialismus des 19. Jhd. in Mittel- und Lateinamerika, also die Überlieferungen aus dieser Zeit, genauer angesehen hat. Er sammelte hierzu verschiedene Berichte und stellte die Erzählung der Kolonialherren (der Meister) den Erzählungen der Sklaven gegenüber. Sein Ergebnis war, dass die verschriftlichte und verbreitete History über den Kolonialismus lediglich die Perspektive der Meister und nicht die Perspektive der Sklaven beinhaltete. So erfand Levi-Strauss den Begriff der Meister-Erzählung (master narratives), womit er darauf hinweisen wollte, dass dies nur die halbe Wahrheit sei. Mit dem Wort Narrativ, wie Levi-Strauss es benutzte, war jetzt nicht mehr nur eine Geschichte (eine Narration) gemeint, sondern eine bestimmte etablierte Erzählung, die sinnstiftend ist, Werte und Emotionen vermittelt und erklärt, wie die Weltordnung sich zusammensetzt.[1]

Damit sind nun zwei elementare Eigenschaften eines Narrativs beschrieben: Zum einen handelt es sich dabei immer um die Erzählung aus einer bestimmten Perspektive. Zum anderen entsteht und verbreitet sich ein Narrativ durch Machtstrukturen. Mit anderen Worten: Es handelt sich um die etablierte Geschichte, erfunden und/oder durchgesetzt von Machtinhabern, die aber für die gesamte Gemeinschaft legitim und daher wirkungsvoll wird.

Zurück zur History: Nach den Erkenntnissen von Levi-Strauss und den daran anschließenden Debatten hat sich das kritische Reflektieren über History verändert und auch die Geschichtsschreibung, wie sie heute praktiziert wird, ist sich der Gefahr der einseitigen Meister-Erzählung bewusst. Neben dem Aufzählen von Daten wird die größere Bedeutung von Ereignissen heute weitgehend multiperspektiv erzählt. Es haben sich hieraus beispielsweise die Felder der Subaltern Studies und des Postkolonialismus entwickelt. Für unser Thema Diversity ist die akademische Praxis von History aber zweitrangig. Zentraler ist hier die Erkenntnis über Narrative, die Levi-Strauss auch als Mythen bezeichnet hat.

Narrative haben wir auch heute und sie sind ebenso dynamisch wie durchdringend in unseren Gesellschaften. Sie verhandelnd Lebensziele, Werte, Orientierung und Identität. Sie erklären was ist, warum es ist und vor allem, warum das rechtens ist, was ist. In den Narrativen finden wir die Erzählungen der Kulturen, die Erklärungen und Begründungen, wie die Dinge laufen sollen und warum. Narrative sind motivierend und richtungsweisend, sie erklären, welchen Nutzen eine Handlung hat, welcher Ausgang wünschenswert wäre und welcher Wert darin mitschwingt. Wir finden sie nicht nur in großen Kulturkreisen, sondern auch in kleineren Einheiten, wie in einem Verein, einem Unternehmen, einer Abteilung oder einer Familie. Im Laufe des Lebens entwickeln viele Menschen auch Narrative über sich selbst. „Ich bin diejenige, die immer XY tut.“ Oder „Wenn ich nur XY tue, dann wird mir auch Z passieren.“ Oder „Weil ich XY bin, wird immer auch Z sein.“

Was nun passiert und warum wir uns hier mit dem Narrativ beschäftigen, ist folgendes: Ausgehend von dem Narrativ, der verbindlichen und populären Mythe, entscheiden und bewerten Menschen ihr Handeln. Es wird zum Schnittmuster einer Lebensführung. Im Umkehrschluss wird tatsächlich ausgeführtes Handeln von Menschen mit dem Schnittmuster auf seine Korrektheit überprüft. Jetzt leben wir in einer diversen Gesellschaft, in der unterschiedliche Mythen aufeinander treffen und einmal erzählte Mythen sich weiterentwickeln. Was also in der einen Logik und Zeit richtig und korrekt ist, wird möglicherweise in der anderen Logik und Zeit auf Missmut und Widerstand treffen. Wer hat nun Recht? Welche Mythe ist wahrer? Wie verläuft die Regulierung der Narrative? Welche Meister-Erzählung botet die andere aus, die sich als Sklaven-Erzählung unterordnen muss?

Die Antwort auf diese Frage ist eng verknüpft mit der Gewohnheit und dem Geschmack. Diejenigen, die sich durchsetzen sind nicht nur die aggressivsten, die am lautesten Schreien können oder am schnellsten das Wort ergreifen. Die Durchsetzungsstarken sind diejenigen, die besonders gut kochen können, die also ihr Story-Telling beherrschen. Das Publikum wird nicht die Kuh essen, die am schnellsten und am lautesten in den Speisesaal getrieben wird. Wer so seinem Publikum begegnet, wird es eher noch verschrecken, denken wir nur an die Reaktion der Leserschaft auf Darwins „Die Entstehung der Arten“, eine Veröffentlichung, die allergrößten Anstoß fand in der christlich sozialisierten Gesellschaft des 19. Jhd. Der Grund dafür war nicht etwa, dass seine Kuh eine Farce gewesen wäre, sie wurde nur viel zu schnell in den Raum gejagt, und war schlichtweg zu verschieden von dem, was man zuvor gegessen hatte. Es brauchte eine Menge Zwischengänge, bis sich die Menge auf diesen Vorschlag einlassen konnte.

Nein, das Publikum wird das Ragout essen, dass am feinsten duftet, in der bezauberndsten Schüssel aufgetragen wird und mit den herzlichen Empfehlungen des Küchenchefs, von dem bestenfalls bereits im höchsten Tönen gesprochen wurde, vor ihnen im Kerzenschein und Geigenhimmel kredenzt wird. Menschen lieben gute Geschichten mit hübschen Figuren, wie sie gutes Essen in hübschen Service lieben. Am Ende werden sie wohl stets das Gericht wählen, dass ihnen am besten schmeckt. Und das ist immer auch eine Frage, was sie gewohnt sind zu essen, denn davon darf es sich nicht zu sehr unterscheiden. Zusammenfassend können wir sagen, dass durchsetzungsstarke Narrative, wie die beliebtesten Geschichten, stets auf das Aufbauen, was bereits bekannt und akzeptiert ist mit einer Nuance Neuem, und dem Publikum etwas schmeichelhaftes vorsetzen, dass ihnen schmeckt.

Konrad H. Jarausch, Martin Sabrow (2002): „Meistererzählung“ – Zur Karriere eines Begriffs. In: Dies. (Hrsg.): „Die historische Meistererzählung. Deutungslinien der deutschen Nationalgeschichte nach 1945.“ Göttingen: Vanderhoeck & Ruprecht, S. 9–31.

normal

Was ist normal?

Dass etwas normal für jemanden oder eine ganze Gruppe von Menschen ist, das ist eine soziale Tatsache, wie es der Soziologe Emile Durkheim ausgedrückt hat. Das Essen mit Messer und Gabel ist nicht normal für alle Menschen der Erde in allen Zeitaltern. Aber (ha ha!) dass Essen mit Messer und Gabel für einen Großteil der Bevölkerung in Deutschland normal ist, das ist eine soziale Tatsache. Es ist eine empirische (also messbare) Tatsache für diese spezielle soziale Gruppe.

Jetzt kommt die Nummer mit dem Habitus. Das Wort kennt der eine oder andere vielleicht noch aus dem Biologieunterricht, und zwar von dem Ausdruck Habitat. Damit sind Ort und Lebensumstände gemeint, in dem sich eine bestimmte Spezies von Tier oder Pflanze ausbreitet, darin lebt und sich pudelwohl fühlt. Jetzt hat der Soziologe Pierre Bourdieu nicht Tiere und Pflanzen, sondern Menschen beobachtet. Er hatte im Gepäck schon ein paar Vorannahmen von Karl Marx und dem eben genannten Durkheim, und zwar das Modell der sozialen Klassen, die eine Gesellschaft vertikal einteilt (also in etwa von Unterschicht zu Oberschicht). Bourdieu hat jetzt die Perspektive verändert und sich gefragt: was, wenn wir die Gesellschaft zudem noch horizontal einteilen (also beispielsweise eine Unterscheidung innerhalb der Mittelschichten). Um es mal anschaulich auszudrücken: die Mittelschicht in Europa empfindet andere Dinge als normal als die Mittelschicht in Asien. Die Mittelschicht in Kiel hat andere traditionelle Weihnachtsgerichte als die Mittelschicht in Konstanz.

Das, was Gruppen von Menschen in ihrem Lebensumfeld (Habitat) als normal empfinden, was sie für Kleidung tragen, was sie essen, was sie arbeiten, welche Werte für sie bedeutsam sind, welche TV-Serien sie konsumieren, wie sie sich begrüßen und verabschieden, welche Witze sie sich erzählen, wie sie heiraten und ihren Glauben ausleben, all das, was soziales Handeln ausmacht und für eine bestimmte soziale Gruppe spezifisch ist, das ist der Habitus.

Gender und Freiheit

Gender und Freiheit

Die Ausgrenzung und Diskriminierung von Nicht-Heterosexuellen nennt Judith Butler auch „die symbolische Abwehr besorgniserregender Möglichkeiten“. Diese Möglichkeit macht manchen Angst: dass es auch anders sein könnte als die Norm, das was für viele als „Normal“ gilt.

Das macht Sinn. Und zwar weil es Sinn und Einfachheit bedroht. Aus all den Möglichkeiten eine Variante rauszusuchen und zu sagen: Ein Mann + Eine Frau = ein „normales“ Paar ist eine Form von Sinn-Konstruktion. Ich finde Sinn, ein für mich brauchbares Muster, in einer Vielfalt von Optionen, die im Grunde alles sein könnten. Ich begrenze die Komplexität „was es sein könnte“ auf etwas, das so groß ist, dass ich es verstehe und sage es ist das „was es ist“. Das Ergebnis ist eine Setzung, die für alle Konsequenzen hat.

Es eröffnet einen Raum, in dem ein „Recht auf Dasein, auf den Status eines menschlichen Subjekts“ manchen gegeben wird und andere gleichzeitig von diesem Recht ausgeschlossen werden. Diese regulierende Kraft von „das ist normal“ macht vor allem eins deutlich: Die Macht, die Normen über uns Menschen hat – wie wir Menschen diese Macht am Leben halten, in dem wir uns immer wieder an diese Normen halten, sie zitieren und uns gegenseitig dazu auffordern, sie zu berücksichtigen.

Ein Tag der Freude ist der Tag, an dem wir dieses Muster durchbrechen, indem wir Sinn infrage stellen und Alternativen, Möglichkeiten, Potenziale erkennen. Ein Hoch auf die Gabe der Reflektion! Ein Hoch auf die Gegenmacht zur Macht der normativen Hegemonie. Hanna Meißner (2012): Butler, S. 25-28.

Postkolonialismus

Was ist Postkolonialismus?

Mit dem Begriff Kolonialismus können sehr viele etwas anfangen. Seit dem 15. und bis zum 20. Jahrhundert haben einige Staaten das Land und die ansässige Bevölkerung in einem anderen Territorium in Besitz genommen und sich verfügbar gemacht. Sie haben zum Beispiel Rohstoffe, Menschen, Wissen und Land erobert und für sich beansprucht. Dies wurde begleitet von der Auffassung der Kolonialisten, selbst „zivilisiert“ und daher überlegen und dem entsprechen wertvoller zu sein als die „Naturvölker“ (in Abgrenzung zur Zivilisation), die sie „erobert“ und versklavt haben. Die Ansässigen hingegen wurden oftmals nicht als Menschen mit gleichem Recht, Verstand und Wert betrachtet, sondern mehr als exotische Wesen, die wie Tiere domestiziert werden konnten. Im Laufe der Zeit haben sich viele Kolonialisten zum Ziel gesetzt, ihre Werte, Ästhetik, Bürokratie, Weltverständnis, Religion und so weiter der lokalen Gesellschaft anzueignen.

Im 20. Jahrhundert kam es schließlich für einen Großteil der betroffenen Gebiete zur Dekolonialisierung, zur weitgehenden politischen Unabhängigkeit der Kolonialstaaten. Postkolonialismus wird ab diesem Zeitpunkt von einigen im Fachdiskurs für die Zeit danach verwendet. Hier nun gibt es verschiedene Perspektiven auf Geschichte. Kritiker des Begriffs mahnen an, dass er einen „endgültigen Abschluss einer historischen Epoche“ suggeriere, „so als wäre der Kolonialismus und seine Konsequenzen definitiv vorbei“. Dem entgegen stehet die Beobachtung, dass erst jetzt Konsequenzen und soziale Prozesse in Gang gesetzt wurden (und bis heute werden) wie etwa die Suche nach alternativen kulturellen Wurzeln der Kolonialisierten: die Suche und Konstruktion einer Geschichte, Entstehungsmythen, Traditionen, Werten, Religionen – kurzum Identitäten, die ohne Kontakt oder Beeinflussung durch die Kolonialisten funktioniert. Dies ist ein eindrucksvolles Beispiel, wie politisch die Herstellung von Identität oder Sinn ist.

Im Falle des Postkolonialismus kann die Herstellung einer alternativen Identität als ein Befreiungsschlag gegen die Hegemonie, die Vorherrschaft „fremder Herrscher“ verstanden werden. Wenn ich meine Geschichte auch ohne meinen Unterdrücker erzählen kann, bin ich in meiner Identität, in dem was, wer oder wie ich bin, ein Stückchen unabhängiger, freier.

Stuart Hall (2013): Wann gab es das `Postkoloniale´?: Denken an der Grenze, in: Conrad et al (Hrgs.): „Jenseits des Eurozentrismus“, Frankfurt, campus.

Grenzregime

Was ist ein Grenzregime?

Eine Grenze teilt das eine vom anderen. Im Falle der Migrationsforschung können das beispielsweise nationalstaatliche Grenzen sein. Diese Grenze aufzustellen, sie mit einem Schlagbaum zu markieren, sie gegen ungebetene Gäste zu verteidigen und damit die bloße Existenz der Grenze erst sichtbar und erfahrbar zu machen, ist ein Vorgang, der von jemandem durchgeführt werden muss. Dieser jemand ist das Grenzregime. Es bestimmt den Ort der Grenze, ihre Durchlässigkeit und den Umgang mit der Grenzüberschreitung. In ihrem Beitrag „Migrationsforschung als Kritik“ bezeichnen Paul Mecheril et al dieses Regime als die „politischen, kulturellen und interaktiven Mechanismen der Regulation und Steuerung von Migration bzw. globalen Wanderungsprozessen“ (S.19).

Ein Grenzregime bestimmt also den Umgang mit Migration, mehr noch, ohne das Grenzregime, dass eine Grenze bestimmt, gäbe es gar keine Migration, da es keine Grenze gibt die überschritten werden könnte. Wer aber ist nun dieses Grenzregime? Ist es die Regierung? Oder sind es die Anwohner? Die Migrationsforschung gibt hierauf eine spannende Antwort: Das Grenzregime sind wir alle, in dem Moment, wo wir eine Grenze als gesetzt akzeptieren, und uns der Ordnung unterwerfen, die dadurch entsteht. Wenn ich sage „Mach die Tür zu, damit die Fliegen / die Kälte / die Blätter nicht reinkommen“, dann bin ich Ausführende eines Grenzregimes (im Kleinen). Ich bestimme dadurch, wo drinnen anfängt und wo draußen endet. Problematisch wird es nur, wenn nationale Grenzen ebenso abgeschlossen konstruiert werden, wie Häusergrenzen. Wenn hier das Grenzregime entschließt „Macht die Tür zu, damit XY nicht reinkommt oder Z nicht rauskommt“, wird ein sozialer Raum hergestellt, der Sicherheit gegen Freiheit eintauscht. Wir als Grenzregime dürfen uns fragen, wieviel wir wovon kaufen wollen und zu welchem Preis.

Gut und Böse

Der Dualismus von Gut und Böse

Eine kurze kulturtheoretische Einordnung.

Der Dualismus von Gut / Böse, Wir/ die Anderen, Richtig / Falsch ist die erste Voraussetzung für den Tabu-Bruch und das Spiel mit alternativen Subjekt-Rollen. Ebenso ist es die Voraussetzung (und häufig Ursache) für Diskriminierung, Ausgrenzung und Xenophobie.

Paul Metzger schreibt in der Abhandlung über die narrative Figur des Teufels, dass dessen kulturgeschichtliche Voraussetzung die Entstehung des Monotheismus sei (Metzger 2016:13). Erst musste das Bild eines absolut Allmächtigen entstehen, die Idee der Fokussierung von Macht, Ethik, Wissen und Kompetenz in einem absoluten, unfehlbaren Regime: in einem Gott. Als Epizentrum aller Legitimität wird dieser Gott zum Anker der Gesellschaft, an der sie sich moralisch, rechtlich und politisch ausrichtet. Die dualistische Logik eines absolut gedachten Gottes impliziert bereits die Logik eines Teufels, der als Antagonist all das sein muss, was der Protagonist Gott nicht ist (siehe hierzu auch Norbert Bolz 2009: 96. Der Teufel als Narration, die eine Unterscheidung zwischen göttlich und teuflisch ermöglicht.)  Das Profil eines Gottes wird durch die Kontrastierung mit einem Teufel geschärft – ein Profil, dass sich, ebenso wie die Teufelsfigur, im Laufe der Geschichte häufig gewandelt hat und synchron selbst innerhalb der selben Konfession variabel zu finden ist. Überspitzt ausgedrückt: monotheistische Gottesbilder haben ihre äquivalenten Teufelsfiguren.

Die Einteilung in Gut/Böse ist eine Varianz, wie dieser Dualismus verstanden werden kann, wobei mit „Gut“ nicht zwangsweise „lieb“ bzw. ein „lieber Gott“ gemeint sein muss, sondern vielmehr „legitim“ und „richtig“. Dies steht in Abgrenzung zu „Böse“ im Sinne von „falsch“. Dieses Orientierungssystem finden wir auch in den rezenten Gesellschaften wieder, die Gott als Herrscher häufig ersetzt haben mit einer demokratischen Verfassung und den Teufel als Antagonist mit allen anderen Herrschaftssystemen und Akteuren, die diese Verfassung bedrohen oder infrage stellen.

 

Während in vielen monotheistischen Vorstellungen ein Gott mit Schicksalsschlägen, transzendenten Leid oder sonstiger „magischen“ Strafe die Grenzüberschreitungen seines Kanons ahndet, werden diese Überschreitungen in der modernen Verfassung mithilfe der Judikative und Exekutive reguliert. Die religiös legitimierten Herrscher monotheistischer Kulturräume führen und führten durchaus ebenfalls weltliche Strafen durch (mit Bezugnahme auf eine göttliche Legitimität), aber an dieser Stelle steht vor allem das literarische Narrativ als Leitbild einer Rezeptionsgeschichte im Fokus. Dieses Narrativ möchte ich folgendermaßen zusammenfassen:

Es gibt die Guten/ Wir – oder mit einem anderen Fokus die Normalen. Sie handeln legitim und richtig, dem gemeinsamen Regime entsprechend (sei das nun ein Gott oder eine Verfassung). Und dann gibt es die Bösen/ die Anderen. Sie handeln anders als „wir“ es für richtig halten und stellen somit „unsere“ Ordnung infrage. Das Motiv der implizierten Zuschreibung eines politischen Opponenten, des Anders-seins als gleichzeitiger Angriff auf die eigene Ordnung ist für das dualistische Gut/Böse-Narrativ bedeutsam. Es schließt an eine Tradition des Eroberungskampfes, der Missionierung, der Kolonialisierung, der Grenzverschiebung usw. an, bei der eine tatsächliche Gefährdung der Herrschaft realistisch ist und die unser Erzählen von Zeitgeschichte geprägt hat. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass eine der frühsten Eigenschaften des Teufels, die ihm seitdem nahezu durchgängig zugeschrieben wurde, sein Ankämpfen und Infragestellen der göttlichen Machtordnung ist (Metzger 2016: 20-23.).

Neben den expliziten Geboten und Gesetzen, die von System-Herrschaft kontrolliert und durchgeführt wird, gibt es noch ein anderes Set an Gesetzen, dessen Verwaltung vor allem in den Händen der Subjekte selbst liegt: Es handelt sich dabei um das Tabu. Der Begriff stammt aus einer nicht-monotheistischen, animistische religiösen Tradition: dem traditionellen Glauben der neuseeländischen Maoris, die damit Orte bezeichnen, die heilig und gleichzeitig nicht zugänglich für Unbefugte sind (in Abgrenzung zu mana, was heilig und für alle verfügbar ist). Bei dem Betreten des Tabus muss der Akteur mit unangenehmen Folgen rechnen, es sei denn er ist ein entsprechend ausgebildeter und legitim handelnder religiöser Spezialist. An dieser Stelle wird bereits sichtbar, dass Tabus nicht per se verboten sind, sondern der benötigte Passierschein nur für Akteure mit einer bestimmten Anhäufung von Macht/Kompetenz ausgestellt wird. Tabus sind also relativ, anders als monotheistisch gedachte Gesetzte.

Bei dem unbefugten Übertreten eines Tabus greift eine Macht, die häufig nicht explizit formuliert aber sozial eingeübt ist: die soziale Abwertung durch die Gruppe, der Entzug von symbolischem Kapital bis hin zum Ausschluss aus dem System, also dem Entzug des Subjekstatus oder der Markierung als nicht-zurechnungsfähig und damit die Transferierung des Akteurs in die Peripherie der Gesellschaft (wie Michel Foucault mit der Beobachtung über „Wahnsinnige“ zum Ausdruck gebracht hat, Vgl. Foucault 2008.). Auf diese Weise übernehmen Subjekte die Kontrollfunktion der Selbsterhaltung eines Systems, sie handeln als Stellvertreter der Gruppe und sind somit die personifizierte Macht des Systems, das über sich hinaus wirkt: die Norm.

Das Subjekt erhält im Laufe seiner Sozialisierung einen inneren Kompass, nach dem es sein Handeln bewerten und ausrichten soll. Es lernt von seinem Umfeld, durch Beobachtung, durch Reflektion und Resonanz auf sein eigenes Verhalten, wo Gut und Böse liegt auf seiner sozialen Landkarte. Auf diese Weise wird dieser empfindlich korrekte Kompass in einem andauernden Prozess in das Subjekt hineingeschrieben, wird Teil seiner Wahrnehmung und somit Konstruktionswerkzeug seiner Realität. Dieses Instrument zur Orientierung im Raum bezeichne ich als Gewissen.

Norbert Bolz (2009): What´s Puzzling You in: Albert Kümmel-Schnur (Hrsg.): „Sympathy for the Devil”, München: Wilhelm Fink, S.:93-106.

Michel Foucault (2008): „Wahnsinn und Gesellschaft: Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft.“, 17. Auflage. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Taschenbuch

Paul Metzger (2016): „Der Teufel“, Wiesbaden: Marixverlag.

Frau sein?

Man wird nicht als Frau geboren

Man wird es. Simone de Beauvoire.

Selbiges könnte im Übrigens auch über Männer gesagt werden. Was die französische Philosophin und Feministin damit ausdrücken wollte, benannte ihre Kollegin, wie ich Judith Butler sicherlich bezeichnen kann, als das Überwinden des Zwangs und des Schicksals der Biologie (Butler, 1995). Die Idee dieser feministischen Theorie ist, dass es alles andere als „natürlich“ ist, eine Frau zu sein unter der Prämisse aller hinzugedachten und -gedichteten Attribute. Sie richtet sich als direkte Kritik an die Aristokratie der Naturwissenschaft, die seit der bürgerlichen Moderne scheinbar für einen Großteil der Gesellschaft wahrer ist als die anderen Wissenschaften.

Beauvoir und Butler stürzen die Biologie von ihrem Thron, indem sie auf die Naturalisierung von Diskriminierung, Ausgrenzung und Abwertung von Frauen auf Basis biologischer Argumentation hinweisen. Dass die „Natur der Frau“ für manche Tätigkeiten, Charaktereigenschaften oder Handlungsweisen geeigneter sei als für die Dinge, die in der „Natur des Mannes“ liegen, ist noch heute eine verbreitete Meinung. So liege es den Frauen, „familiär, fürsorglich, apolitisch [und] natürlich“ zu sein, während Männer hingegen „wettbewerbsorientiert, politisch [und] sozial gestalte[nd]“ seien (Villa 2012, 42). Es ist nicht unbedeutend, dass ausgerechnet die vermeintlichen Eigenschaften der Frauen mit Aufgabengebieten zusammenfallen, deren gesellschaftliche Wertschätzung geringer ausfällt, aus der simplen Tatsache heraus, dass sie nicht sichtbar werden. Die „Liebesdienste“ der Frauen, die zu einem großen Teil konstitutiv für die Reproduktion von Arbeitskraft sind (Kochen, Waschen, Putzen, Nachwuchs, Zuwendung, Pflege etc.) werden nicht als Leistung gewertet, sondern als die „Natur der Frau“. Es gibt kein symbolisches Kapital für die Arbeit, die nicht sichtbar wird, geschweige denn von finanziellem Kapital. Durch diese Arbeitsteilung entsteht eine gegenseitige Abhängigkeit von Männern und Frauen, die einerseits bezahlte Arbeitskraft und andererseits unbezahlte Reproduktion von Arbeitskraft im Tausch füreinander hergeben (müssen).

Es geht nicht darum, die Naturwissenschaften in ihrer Legitimation zu hinterfragen, sondern darum, ihre Grenzen und politischen Verstrickungen aufzuzeigen, wie sie jede Wissenschaft hat. Dass Männer und Frauen eine „unterschiedliche Natur“ hätten, war einmal eine bahnbrechende neue Erkenntnis. Aber wie es so schön heißt: Alles war einmal neu, bis es alt wurde.

 

Villa, Paula- Irene (2012): Feministische- und Geschlechtertheorien, in: Martha Kampshoff und Claudia Wiepke (Hrsg): „Handbuch Geschlechterforschung und Fachdidaktik“, Wiesbaden: Springer VS, 39-52.

Wahrnehmung und Wissen

Wie wird aus Wahrnehmung Wissen?

Wir haben in einem unserer Diversity-Seminare die Teilnehmer gefragt: „Woher wisst ihr eigentlich, was ihr wisst?“. Die Antworten kamen schnell: von den Eltern, aus dem Umfeld, aus der Schule oder dem Studium, aus den Medien und so weiter. Schließlich kam der Vorschlag: „Ich weiß was ich weiß aus eigenen Erfahrungen. Beispielsweise durch ausprobieren, üben oder reisen.“ Es stellte sich heraus, dass unsere Teilnehmer diesem Wissen am allermeisten Vertrauen schenkten, schließlich handelte es sich ja um Dinge, die „am eigenen Leib” erlebt wurden – welchen besseren Beweis könnte man erwarten?

Aber wie kommt dieses Wissen „aus eigenen Erfahrungen“ in unseren Kopf? Mit unseren fünf Sinnen, resümierte ein Teilnehmer. Wir hören und sehen Dinge, wir schmecken und riechen sie und wir können mit unserer Haut auch fühlen, welche Temperatur oder Beschaffenheit sie haben. Aber damit nicht genug. Wenn diese Informationen erstmal in unserem Gehirn angekommen sind, dann denken wir darüber nach. Wir interpretieren das Wahrgenommene und kommen zu einem Ergebnis.

Und? Sind wir die kreativen Schöpfer und Erfinder dieses Ergebnisses? Naja, eigentlich ja nicht, räumte eine junge Frau ein. Eigentlich vergleichen wir es mit dem, was wir schon kennen. Wenn ich zuerst einen Apfel kenne und danach eine Mango esse, dann werde ich die Mango damit vergleichen und sie kommt mir recht groß vor und irgendwie klebrig und schwierig zu essen mit ihrer Schale und dem großen Kern. Wenn der Apfel mein Proto-Obst ist, schneidet die Mango schlecht ab, weil sie weniger „apfelig“ ist. Dass die Mango ein schlechtes Obst ist, wenn ein gutes Obst als ein Apfel definiert ist, stimmt.

Wenn ich zuerst die Mango kenne und danach den Apfel probiere, dann kommt mir der Apfel fast schon sauer und unglaublich hart und klein vor. Mit der Mango als Zielscheibe meiner Orientierung trifft der Apfel nicht gerade ins Schwarze. Dass ein Apfel ein schlechtes Obst ist, wenn ein gutes Obst die Mango ist, stimmt ebenfalls. Das nennt die Linguistik die Semantik der Prototypen. Wir kommen zu unserem Ergebnis im Vergleich zu dem, was wir schon vorher kennen oder was uns so beigebracht wurde.

Jetzt kommt der Clou: Nicht erst unsere Interpretation, sondern bereits unsere Wahrnehmung, ja sogar unsere fünf Sinne sind kulturell geprägt. Nicht einmal die eigene Nase riecht objektiv.  Es gibt immer eine Vorgeschichte, einen Fokus, eine Einschränkung, wenn wir mit unserem Paket Menschlichkeit in der weiten Welt herumlaufen.

Wir wissen was wir wissen, weil wir (1) etwas mit unseren bereits geschulten Sinnen wahrnehmen und (2) interpretieren auf Basis dessen was wir bereits einmal bewertet haben. Verändern wir ein Parameter dieser Gleichung, verändern wir das gesamte Wissen.